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09.04.17 –
Viele Fragen zur Situation in der Türkei hatte das Publikum, als am Freitagabend, 30. März, im "Freiraum" in Lüneburg auf Einladung der Grünen Landtagsabgeordneten Miriam Staudte informiert und diskutiert wurde.
Zu Gast waren der türkisch-stämmige Landtagsabgeordnete Belit Onay und Prof. Vera van Hüllen, Politikwissenschaftlerin an der Leuphana mit dem Forschungsschwerpunkt "Internationale Beziehungen".
Onay informierte zunächst über die konkreten Änderungen in der türkischen Verfassung, über die derzeit alle türkischen Staatsbürger im In- und Ausland abstimmen können. Es gäbe mit einer solchen Änderung keine Gewaltenteilung mehr, so Onay. "Die Kontrolle der Regierung durch das Parlament würde faktisch entfallen, denn Anfragen der Abgeordneten müssen nicht mehr beantwortet werden", so der in Goslar aufgewachsene Abgeordnete. Stattdessen könne der Präsident, wenn er vor Ablauf einer Wahlperiode Neuwahlen ausruft, theoretisch bis ans Lebensende wiedergewählt werden. "Statt auf Gesetze, die das Parlament erlässt, kann der Präsident künftig auf Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft zurückgreifen, die er selbst erlässt." Auch sei ein Kabinett aus von ihm ernannten Ministern künftig zwar noch vorgesehen, die Minister seien dann allerdings faktisch nur noch politische Beamte, ohne wirkliche Ressortverantwortung. "Nicht nur die Entscheidungen des Kabinetts, auch den Staatshaushalt bestimmt künftig der Präsident", so Onay.
"Eigentlich ist alles keine Veränderung zum Status Quo. Der jetzigen Ausnahmezustand mit den weitreichenden Machtbefugnissen des Präsidenten würde aber auf Dauer legalisiert werden." Auf Nachfrage der Grünen Landtagskollegin Staudte, warum das Referendum nicht kritischer in der Türkei diskutiert werde, erklärte Onay, dass die Debatte gar nicht um die Inhalte der Verfassungsänderung gehe, sondern rein emotional geführt werde. "Es wird der Eindruck vermittelt: Wer nein sagt, ist gegen die Türkei. Ich glaube die Mehrheit der Bürger weiß nicht, worüber überhaupt abgestimmt wird. Auch junge türkisch-stämmige Deutsche können häufig gar nicht mehr so gut Türkisch, um die Debatten komplett zu verstehen. "In den allabendlichen Talkshows werde zwar angeblich zum Referendum diskutiert, aber die regierende Partei AKP schaffe es, eine nationalistische Erzählung zu vermitteln, wonach alle gegen die Türkei seien. Im Hinblick auf die langen Jahre der EU-Beitrittsverhandlungen sei allerdings eine Frustration in der Bevölkerung nicht völlig unbegründet. "2003 bis 2006 herrschte eine Aufbrauchstimmung in der Türkei. Alle dachten, Brüssel stimmt der Aufnahme in die EU bald zu. Doch immer wieder zerschlugen sich diese Hoffnungen." Gerade in Deutschland lebende Türken und Doppelstaatler fühlten sich laut Onay von Merkels damaliger Absage selbst als Türken in Deutschland mit abgelehnt. "Nun werden womöglich einige die Abstimmung nutzen wollen, um Merkel einen Denkzettel zu verpassen."
Nahezu jeder türkischstämmige Mensch habe schon Diskriminierungserfahrungen gemacht. "Als 15jähriger fragte mich ein Lehrer, ob wir zu Hause überhaupt einen Tisch hätten. Da fühlt man sich total vor den Kopf gestoßen", so der studierte Jurist Onay. "Auch später, als meine blonden Freunde in die Diskothek durften und mir der Eintritt verwehrt wurde, war das eine Diskriminierungserfahrung, die mir noch heute gegenwärtig ist. Trotzdem lehne ich das Referendum natürlich ab." Auf die Frage, welche Partei in der Türkei eine erfolgversprechende Alternative darstelle, musste Onay berichten, dass es derzeit keine oppositionelle Partei schaffe, eine realistische Machtoption zu bieten. "Die links-gerichtete HDP hatte es zwar noch geschafft, die in der Türkei geleitende 10%-Hürde zu knacken, habe sich aber in den Augen vieler nicht genug von der Terrororganisation PKK distanziert. Auch seien die Kurden keine homogene Gruppe, wie viele Deutsche meinen. "Erdogan hat sehr geschickt auch kurdische Abgeordnete und Minister ernannt. Das waren zum Teil religiös-konservative Hardliner." Die Kurden definieren sich nicht unbedingt nur über ihre ethnische Zugehörigkeit, sondern auch über ihre politische Einstellung.
"War es richtig die Wahlkampf-Auftritt türkischer Spitzenpolitiker in Deutschland abzusagen?" war eine Frage, die im Raum stand. "In der Konsequenz schon", so Onay, "aber dies hat natürlich zu einer hohen Wählermobilisierung in Erdogans Reihen geführt." Welches Ergebnis beim Referendum zu erwarten sei, könne aber nicht vorhergesehen werden.
Bis zum 09. April können alle in Niedersachsen lebenden Türkinnen und Türken oder Doppelstaatler noch in den Messehallen in Hannover von 9.00 bis 21.00 Uhr an jedem Tag in der Woche abstimmen.
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